Z0137 Die Illusion der getrennten Einzelexistenz überwinden – Teisho vom 17.1.2021

Im Hekiganroku Fall Nr. 100, Haryô und das “schärfste Schwert”, heißt es: Ein Mönch fragte Haryô: “Was hat es mit dem Schwert auf sich, gegen das ein Haar geblasen wird?” Haryô sagte: “Jeder Korallenast umarmt den strahlenden Mond.”

Als “das erste Prinzip” wird in der Zentradition die Notwendigkeit verstanden, dass jeder Übende seine eigenen Erfahrungen machen muss. Erlebnisse und Erfahrungen aus zweiter Hand zu diskutieren, wird im Zen vehement abgelehnt. Genauso gilt das Ventilieren der eigenen Erfahrungen nicht als hilfreich. Insofern stellt Meister Engo die Frage an seine Mönche, ob seine vielen Vorträge ihnen nicht geschadet hätten. Und er behauptet schlechterdings, dass es von Anfang an kein Geheimnis und nichts zu sagen gegeben hätte. Tatsächlich können nach dem Verständnis des Zen die Vorträge und Hinweise der Meister nur Anregungen sein, die den Selbsterfahrungsprozess stimulieren sollen.
Das Schwert gilt hier als Metapher für diejenige Form von unterscheidender Weisheit, die alle Illusionen abschneidet. Besonders geht es auch darum, aus der Illusion der Getrenntheit heraus zu kommen, in die wir durch unsere Identitätskonzepte verwickelt sind. Die Weisheit, um die es hier geht, macht eine Unterscheidung INNERHALB der Einheit möglich.
Die Korallen, die es fertig bringen, ihre Vermehrungszyklen mit Hilfe der Mondphasen zu synchronisieren, zeigen eine “Intelligenz”, die wir für uns als Menschheit wohl erst noch erarbeiten müssen. Wenn wir uns die “Intelligenz” dieser Korallen zum Vorbild nehmen, dann könnten wir IN diesem großen Kosmos zur Erkenntnis kommen und damit dem Kosmos selbst zum Erwachen verhelfen. In diesem Sinne vertritt auch der Sinologe David Hinton die These: In der chinesischen Zen-Poesie und der Dichtung der Zen-Meister und Zen-Künstler wird der Kosmos seiner selbst bewusst. Dieser Prozess der integrativen Bewusstwerdung kann durch die Mittel der Sprache aber gerade dort erreicht werden, wo sie sich – wie in der Poesie – auf ein Minimum reduziert und sich in die Stille hinein öffnet. Damit kann die Poesie ein Mittel sein, um das allzu verengte Identitätsbewusstsein zu erweitern und gewissermaßen mit dem größeren Kosmos in ein Gespräch zu kommen. Um diese Öffnung geht es genauso auf dem Weg der spirituellen Praxis des Zen. Die Stille, in die wir in der Zenpraxis gehen, führt uns in den nichtsprachlichen Erfahrungsraum. Damit wird es uns möglich, unseren Standort im Universum – unabhängig von den kulturell geprägten Identitätsschemata – neu zu bestimmen. Dann werden wir fähig, im “homeless home and selfless self”, wie Soen Nakagawa es ausdrückte, zur Subjektivität des Kosmos zu erwachen. Diese größere Subjektivität geht weit über die selbstbezogene Achtsamkeit und auf Durchsetzung bedachte Präsenz hinaus. In der wirklichen Präsenz – jenseits der beschränkten Eigeninteressen – werden wir durchlässig für die Resonanzkräfte des Universums. In dem Maße, in dem uns das gelingt, können wir dann auch in eine heilsame Mitschöpfer-Rolle gegenüber dem großen Universum kommen. Und dann können wir als verantwortliche Gärtner in der Biosphäre das schöpferische Moment weiter voranbringen.

Literatur:
David Hinton. Existence. A Story. Shambhala, 2016
ders.: Awakened Cosmos. The Mind of Classical Chinese Poetry. Shambhala, 2019

Z0136 Das allmähliche und das plötzliche Erwachen – Teisho vom 16.1.2021

Anhand des Koans Nr. 38 aus dem Hekiganroku spricht Christoph Rei Ho Hatlapa über die Wege zum Erwachen und den Umgang mit dem Bewusstsein einer sich ständig wandelnden Welt.

Die Zen-Tradition berichtet von einer Auseinandersetzung zwischen der nördlichen und der südlichen Schule des Zen in China: Die nördliche Schule vertrat die Lehre von der allmählichen Reifung und Entwicklung, während die südliche Schule nach dem plötzlichen Erwachen strebte.

Eine plötzliche existentielle Erschütterung kann unter Umständen zu einer Art von Erwachen führen, einem inneren Umschlagen der Sicht der Welt, das zu einer ganz anderen und realeren Auffassung des Lebens führt. Aber auch ein solcher radikaler Paradigmenwechsel in der persönlichen Erfahrung braucht danach einen Integrations- und Reifungsprozess, wie Christoph Rei Ho Hatlapa am Beispiel der Lebensgeschichte von Reiko Mukai, genannt Kosan, erläutert.
Der – irrtümlichen – Auffassung, dass mit einem existentiellen Erwachen schon alles erreicht wäre, widersprach der Zenmeister Oi Saidan Roshi, obwohl er Reiko Mukais “Erwachen” anerkannte. Denn auch nach einem tiefen Erwachen liegt der lange Weg der Integration und Reifung noch vor uns. Das Erwachen, selbst ein tiefes Erwachen mit einer echten Einsicht in die Wesensgleichheit, braucht danach immer noch die Integration mit dem Leben im Alltag und die Bewährung in der Praxis des realen Lebens.
Aber auch ohne ein initiales existentielles Erlebnis kann eine gut angeleitete Schulung zu einem fortschreitenden Prozess des Erwachens führen. Beide Wege, die sogenannte “plötzliche Erleuchtung” und die langsame Reifung können sich tatsächlich gegenseitig ergänzen.
Diese Integration und Reifung wird in der zenbuddhistischen Tradition, hier vom Meister Fuketsu vertreten, als das Dharmasiegel des Buddha und der Patriarchen bezeichnet. Wer diesen Weg gegangen ist und diese Integration geleistet hat, der kann mit den drei Daseinsmerkmalen des Lebens schöpferisch und aktiv umgehen. Diese drei Daseinsmerkmale sind, laut buddhistischer Lehre: 1.: Die Nicht-Substantialität des Ich (anatta), 2.: die Vergänglichkeit und Flüchtigkeit aller Erscheinungen (anicca) und 3.: Das Verlöschen aller Konzepte im Erwachen (nirvana).
In dem Maße, in dem wir mit diesen Daseinsmerkmalen – nicht nur als gedanklich wiedergekäute Theorien, sondern als selbst erfahrene Einsichten – im realen Leben präsent und schöpferisch umgehen können, in dem Maße kann man dann wirklich von Erwachen sprechen.
Gerade die selbst erfahrene Einsicht in die Natur der Vergänglichkeit aller Erscheinungen, bis hin zu den Beziehungen der Menschen untereinander, kann uns dann öffnen für die Einzigartigkeit und die volle Intensität jeden Augenblicks. Wir werden dann sorgfältiger im Umgang untereinander und mit der Mitwelt und bleiben auch dann hellwach, wenn wir durch unangenehme Erlebnisse hindurchgehen. Und in dem Maße, in dem wir wissen – durch eigene Einsicht – was mit Nicht-Ich (anicca) gemeint ist, können wir auch die eigene Vergänglichkeit bis hin zum eigenen biologischen Tod annehmen. Wir wissen dann, dass das Große Leben, aus dem wir alle hervorgegangen sind, weitergeht. Und wir können darauf vertrauen, dass wir in diesem über uns hinausreichenden größeren Zusammenhang aufgehoben bleiben; auch wenn das, was wir heute für unser “Ich” halten, sich in seine Bestandteile aufgelöst hat. Wie in unserer buddhistischen Tradition immer wieder aus dem Herz-Sutra, dem Hannya-Shingyo, rezitiert wird: Nichtbegrenztheit (Leerheit, shunyata) ist identisch mit den Formen, die Formen sind identisch mit der Nicht-Begrenztheit, der Leerheit. Damit wir diese Identität von Großem Leben und unserem begrenzten eigenen Leben, diese Identität von Form und Leerheit, im realen Leben umsetzen können, brauchen wir die Übungspraxis. Auf diesem Weg der Integration können wir in zunehmendem Maße mit dem ständig neue Formen gebärenden Gewebe des Großen Lebens in Einklang kommen.

Z0135 Meister Bankei und der ungeborene Buddha-Geist

Meister Bankei lebte von 1622 bis 1693 und galt mit seiner Offenheit für alle Bevölkerungsgruppen als Erneuerer der Zentradition und wirkte damit als Wegbereiter des 64 Jahre jüngeren Hakuin.

Bankei betonte immer wieder: “Es genügt, wenn die Menschen in Übereinstimmung mit dem ’Ungeborenen Buddhageist’ leben.” Auch im Koan Fall Nr. 206 aus dem Kattoshu geht es um den ’Ungeborenen Buddhageist’. Dort wird berichtet, wie Fuketsu (chin.: Fengxue Yanzhao, 896-973) von seinem Lehrer Nan’in (chin.: Nanyuan) auf ’das Ungeborene’, im Gegensatz zu den verschiedenen meditativen Methoden und geistigen Hilfsmitteln, hingewiesen wird.
Auf dieses ’Ungeborene’ verweist Bankei seine Schüler immer wieder. Und er rät ihnen: Lass sämtliche Konzepte los! Gib alle Ideen auf und erlebe deinen eigenen ursprünglichen Geist hier und jetzt!
Dieses ’Ungeborene’, so Bankei, kann weder durch mentale Techniken produziert werden noch ist es der Zustand einer religiösen Ekstase; es ist, wo auch immer wir uns befinden, makellos schon vorhanden, so wie es ist. Es geht nur darum, ohne Befangenheit, ohne Begriff und ohne Urteil einfach man selbst zu sein.
Mit dieser Betonung des Ursprünglichen näherten sich Zenmeister wie Fuketsu oder Bankei der Lehre des Daoismus an. Schon Lao Tse beschrieb den Urgrund der Welt als ein sich selbst, aus sich selbst, immer neu schöpfendes lebendiges Gewebe, eine schöpferische Struktur, die keiner künstlichen Zusätze bedarf.
Bankei erreichte mit seiner Lehre – und seinem persönlichen Beispiel – zu seiner Zeit eine ungewöhnlich große Popularität und Anhängerschaft, zu der Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen und gesellschaftlichen Rängen zählten.